«Wenn Narzissten Kinder kriegen», so die Headline eines «FAZ»-Artikels über Influencerin und Neo-Mutter Chiara Ferragni (12 Millionen Follower auf Instagram). Die Fragestellung: «Was macht eigentlich ein Influencer, wenn er alt ist?» – «Nicht viel», lautete das Fazit der «FAZ». Und weiter: «Lieber reproduziert man sich vorher, um den Nachwuchs die Instagram-Arbeit machen zu lassen.»
In den darauffolgenden Absätzen werden Chiara «The Blonde Salad» Ferragnis Mechanismen des Selbstmarketings in polemischer Sprache auseinandergenommen. Fair enough: Nutzbare Angriffsfläche bietet sich genügend. Auf Instagram präsentiert Chiara ihr Privatleben genauso kunstvoll wie aktuelle Modetrends und schreckt nicht davor zurück, intime Momente wie ihre Verlobung mit dem italienischen Rapper Fedez so öffentlichkeitswirksam wie möglich zu inszenieren.
Wirklich zu weit ging die erfolgreiche Frau gemäss der sichtlich erzürnten «FAZ»-Journalistin erst, als sie ein Foto aus dem Kreisssaal postete. Und – zugegeben – hier musste auch ich das erste Mal schlucken. Auf dem Foto umarmt Chiara Ehemann Fedez und schreibt dazu:
Und noch etwas ausführlicher: «Das waren die besten Tränen, die ich je geweint habe. Dies war der Moment, als wir Leo zum ersten Mal in der Welt begrüssen konnten. Niemals zuvor habe ich so ein Gefühl erlebt. Es war harte Arbeit und ich war erschöpft – dennoch war diese Erfahrung gemeinsam mit meinem Liebsten an der Seite die beste Motivation. Es hat sich angefühlt wie eine Filmszene.»
Ich musste beim Lesen kurz stoppen und erstmal darüber nachdenken, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben. Erst vor Kurzem initiierten Ex-Mitarbeiter grosser Silicon-Valley-Konzerne die Initiative «The Truth About Tech», um über die Folgen einer Entwicklung zu warnen, die sie selbst verursacht haben. Darunter auch Facebook-Operations-Manager Sandy Parakilas und Justin Rosenstein, der den Like-Button erfand, der auch auf Instagram in Form eines Herzchens sein Unwesen und Millionen Twenty-Somethings in die Likeability-Unsicherheit treibt. «Die Plattformen sind keine neutralen Produkte», erklären die Initiatoren. «Sie sind Teil eines Systems, das entwickelt wurde, um Menschen süchtig zu machen.» Was soll ich sagen: Social Media funktioniert. Denn ...
Frederike filmt sich beim Weinen, weil sie gerade eine depressive Episode hat und erzählt von ihrer letzten Therapieeinheit – und bekommt dafür hunderte DMs und neue Follower. Susanne erzählt von ihrer dritten Fehlgeburt, und wie sie die Wochen danach eine Auszeit von ihrem Business nehmen musste. Als ich neulich mit einer Freundin beim Italiener sass, erzählte sie mir ganz aufgeregt, dass sich ihre Lieblingsinfluencerin die Haare abgeschnitten hat.
Meine Freundin spricht nicht etwa von den Kardashians, nein. Sondern von einer Person mit 7K, der sie nur über Instagram folgt. Auch mir fällt immer öfters auf: Es gibt inzwischen einige Menschen in meinem Bekanntenkreis, die ihr Privatleben kommentieren als wäre es eine Soap ohne Intro. Nur: Wie bewusst geschieht die Ausbeutung des Innenlebens dabei wirklich, wenn jeder Klick schon bald Routine scheint?
Das Problem mit herzzerreissend süssen Babyfotos wie jenen von Ferragni ist nicht, dass sie keine Berechtigung haben. Das Problem ist, dass viele Influencer mit der permanenten Inszenierung ihrer Realität als Vorbild fungieren – mit dem kleinen Unterschied, dass sie für ein Foto von dem kleinen Leo Geld verdienen und Lara aus Pfäffikon nicht.
Lina Mallon ist selbst Influencerin und Autorin und zieht eine klare Grenze zwischen privat und zu privat. «Ich glaube, dass von meinem tatsächlichen Privatleben weniger bekannt ist, als von einem beliebigen Instagram-Nutzer, der sonntags gern die Familienausflüge an den Scharmützelsee und das Mittagessen mit der neuen Kollegin teilt», sagt die 29-Jährige.
«Gerade wenn ich Persönliches teile, brauche ich klare Grenzen, um mich selbst wie eine Autorin zu fühlen und nicht wie meine eigene Gossipplattform.»
Ob sie ein Foto aus dem Kreisssaal wie Ferragni posten würde? «Ja, wenn ich es ausdrucksstark fände, wenn es sich richtig anfühlen würde. Aber ich würde keins machen, um es zu posten. Das ist mein Unterschied.» Persönlich hat der Bloggerin das Foto, das unmittelbar nach der Geburt von Ferragnis Sohn entstand und auf Instagram geteilt wurde, nicht aufgestossen, sondern sie – im Gegenteil – mit viel Liebe erfüllt. «Es war authentisch, es war echt und offenbar nicht mit dem Gedanken an den Instagramauftritt kompositioniert.»
Im Grunde bin ich ganz bei Mallon. So sehr ich manche Frauen (und auch deutlich weniger Männer) um ihre Ehrlichkeit beneide, mit der sie oftmals tabuisierte, komplexe Gefühlslagen an die Öffentlichkeit bringen: Ich weiss nicht, ob Social Media unbedingt der beste Ort ist, um seine Gefühle in vollster Breite auszuleben, ohne dabei Zuseher anzuziehen, die mit offenem Mund wie bei einem Autounfall hinstarren.
Follower, die früher Popcorn vor dem Fernseher gegessen hätten, um Heidis Mädels auf dem Laufsteg fallen zu sehen und dasselbe Prinzip heute eben vor Instagram ausleben.
In einer Welt, in der glattgebügelte Fakeness nicht mehr zu ziehen scheint und generische Kaufbotschaften («KAUFE HIER JETZT!») untergehen, ist es für Promis als auch normalsterbliche Selbstständige zur Gewohnheit geworden, ihr Privatleben auszuschlachten, um sich – Achtung, hier wird es ironisch – besonders echt zu geben, obwohl die geposteten Ausschnitte ja ganz bewusst diesen einen Aspekt der Lebens- und Leidensgeschichte repräsentieren, um Verbundenheit mit der Anhängerschaft zu kreieren. Das Positive daran, so betont es auch die 400k-followerstarke Influencerin und Marketing-Expertin Jenna Kutcher: durch die Selbstdarstellung können Gedanken und Gefühle für andere so aufbereitet werden, dass sie in schwierigen Lebensphasen in ihrem Handeln und Fühlen bestärkt werden.
Und trotzdem: Die Studie #StatusOfMind – insgesamt wurden 1500 Jugendliche im Alter von 14 bis 24 Jahren befragt – ergab inzwischen, dass Instagram im Vergleich zu anderen Apps das Wohlergehen und die Psyche am meisten beeinträchtigt. Sie wurde Anfang 2017 von der Royal Society for Public Health in Zusammenarbeit mit der Young Health Movement Organisation in Grossbritannien erhoben.
Ziel dabei war, sowohl positive wie auch negative Auswirkungen der beliebtesten Social-Media-Plattformen auf die psychische Verfassung und das Wohlbefinden zu untersuchen.
Das Ergebnis: «Social Media machen süchtiger als Zigaretten und Alkohol. Sie sind mittlerweile so im Leben der Jugendlichen verankert, dass es nicht mehr möglich ist, sie zu ignorieren, wenn man über die psychischen Probleme junger Menschen spricht», so die Vorstandsvorsitzende.
Ob das Innenleben nun gänzlich, leicht oder gar nicht zensiert wurde, spielt für die Follower am anderen Ende der Leitung keine Rolle. Es zählt, was in unserem Feed aufscheint. Das, was uns catcht – und schliesslich an eine Person bindet.
Ohne hier konservativ zu klingen oder Individuen ihr Recht abzusprechen, das zu posten, was sie für richtig halten: Ich wünsche mir, dass Menschen sich ihrer digitalen Fussabdrücke genauso bewusst wären wie ihrem grünen Daumen – und sich nicht irgendwann am Ende ihres Lebens fragen müssen, ob sie sich mehr Gedanken um das perfekte Schwangerschaftsfoto, als das Wohlbefinden ihres Neugeborenen gemacht haben.
Oder, um es in den Worten von Lina Mallon zu sagen: