
Sag das doch deinen Freunden!
Die Caveltis sind eine ganz normale junge Familie. Seit zehn Jahren sind die künstlerische Assistentin an der Hochschule Luzern und der Category Manager bei Mammut ein Paar, letzten September haben sie geheiratet. Mit ihrer Tochter Lin, die im April fünf wird, und ihrem anderthalbjährigen Sohn Nino leben sie im Knonauer Amt.
Wie war das, als Sie bemerkten, dass Nino nicht gesund ist?
Andrea Cavelti: Das kam nicht auf einen Schlag. Am Anfang hat man bei Nino eine Stoffwechselerkrankung vermutet aufgrund seiner äusseren Auffälligkeiten.
Aber das war es nicht?
Andrea Cavelti: Nein. Es kam eines nach dem andern: Am ersten Tag sagten sie uns, er habe einen Hodenhochstand und zusammengewachsene Zehen. Und erweiterte Ventrikel im Gehirn. Am zweiten Tag informierten sie uns über den Herzfehler. Diese ersten zwei Tage konnte ich mich wegen den Folgen meiner Schwangerschaftsvergiftung nur beschränkt um Nino kümmern. Ich lag auf der Intensivstation und es ging mir sehr schlecht. So wurden mir die Informationen Stück für Stück von den Ärzten ans Bett überbracht – aber wir ahnten noch nichts Schlimmes.
Nino kam zu früh auf die Welt.
Andrea Cavelti: Ja, gut fünf Wochen. Am dritten Tag konnte ich Nino endlich selbstständig besuchen. Da habe ich den Arzt gefragt: «Ist es normal, dass ein Frühgeborenes so einen kleinen Kopf hat?» Er sagte, das sei ihm auch aufgefallen. Es könne sein, dass Nino ein Syndrom habe. Und ich habe mich gefragt: «Syndrom, Syndrom, was ist das jetzt?»
Haben Sie während der Schwangerschaft schon bemerkt, dass Nino etwas fehlt?
Andrea Cavelti: Nein, alle Ultraschall-Untersuchungen waren unauffällig. Allerdings hatte ich vor Nino mehrere Fehlgeburten. Eine vor der Tochter, die bald fünf wird, und drei danach. Aufgrund dieser vielen Fehlgeburten haben wir uns genetisch abklären lassen, aber es wurde bei uns nichts gefunden.
Sie erlebten also eine recht unbeschwerte Schwangerschaft?
Andrea Cavelti: Ja. Der Professor, der mich untersucht hat, hat beim Ultraschall Ninos Herzfehler übersehen. Im Rückblick bin ich froh darüber, denn so hatten wir wenigstens eine einigermassen unbeschwerte Schwangerschaft. Sonst wäre die ganze medizinische Maschinerie dann schon angelaufen.
Es gab gar keine Hinweise darauf, dass etwas nicht stimmen könnte?
Andrea Cavelti: Beim ersten Trimester-Test war mein Blutwert nicht so gut. Bei einem Wert von 1:309 hatte ich zwar noch kein erhöhtes Risiko, trotzdem verunsicherten uns die Ärzte sehr. So haben wir uns für einen weiteren, nicht invasiven Bluttest entschieden, den PraenaTest.
Mit welchem Ergebnis?
Andrea Cavelti: Der war dann unauffällig, jedoch ist er nur für Trisomie 21, 18 und 13 aussagekräftig. In dieser Zeit haben wir uns damit auseinandergesetzt, was wir machen würden, falls dieser zweite Test auffällig wäre. Für uns war klar, eine Abtreibung kam nicht in Frage, denn wir wünschten uns sehr ein zweites Kind.
Was fehlt Nino denn?
Andrea Cavelti: Nino hat einen Gendefekt. Es ist eine Chromosomenveränderung, ihm fehlen rund 100 Gene auf dem kurzen Arm des Chromosoms 7.
Johannes Cavelti: Von diesen 100 fehlenden Genen kennt die Wissenschaft nur vier. Und nur bei denen die Auswirkungen. Bei den 96 anderen haben sie null Ahnung. Um eine korrekte Aussage über Ninos Krankheit und deren Verlauf machen zu können, müsste bei einem anderen Menschen eine identische Chromosomenveränderung vorliegen. Nino ist mit seinem Gendefekt bis jetzt der einzige bekannte Fall weltweit.
Wie wirkt sich der Gendefekt bei Nino aus?
Andrea Cavelti: Er hatte einen schweren Herzfehler. Dazu kommt ein erhöhtes Risiko für einen Nierentumor bis zum fünften Lebensjahr, danach nimmt das Risiko ab. Wegen den Nieren müssen wir jetzt alle vier Monate einen Ultraschall machen lassen. Er hat auch ein erhöhtes Risiko für Epilepsie. Und für Diabetes, aber erst ab der Pubertät. Ausserdem hat Nino eine zerebrale Bewegungsstörung (Cerebralparese), die erst vor kurzem von den Ärzten bestätigt wurde. Alles weitere, was sonst noch kommt, wissen wir nicht.
Verändert der Gendefekt auch Ninos Aussehen?
Andrea Cavelti: Ja, seine Öhrchen liegen ein bisschen weiter unten und sind ein wenig eingeknickt, und er hat einen grösseren Kopf, eine breite und kurze Nase, breite Finger und die zusammengewachsenen Zehen.
Johannes Cavelti: Das ist das Krankheitsbild, das man bisher entdeckt hat und das man durch die vier bekannten Gene begründen kann.
Ist es schwer, abzuschätzen, was da noch kommen könnte?
Andrea Cavelti: Ja, bei Nino sicher, aber allgemein in der Genetik. Die Humangenetik steckt immer noch in den Kinderschuhen. Dieses In-der-leeren-Luft-stehen, das war am Anfang sicher sehr schwierig für uns.
Da lebt man doch in einem permanenten Zustand der Unsicherheit.
Andrea Cavelti: Am Anfang sicher. Wir mussten realisieren, man hat mit einem Kind nie Sicherheit. Auch mit einem gesunden nicht. Es kann auf die Strasse laufen und wird überfahren. Wir haben unsere Einstellung durch Nino komplett geändert. Wir haben eine andere Sichtweise bekommen auf das Kinderhaben. Ein Kind ist sowieso ein Geschenk auf Zeit. In dieser Hinsicht ist Nino wie ein grosser Lehrmeister: Er hat uns gelehrt, mehr im Augenblick zu leben.
Was war für Sie die schwierigste Zeit?
Andrea Cavelti: Bestimmt die ersten Wochen nach der Geburt. Die ganze Unklarheit und Unsicherheit über Ninos Zustand und Gesundheit war schwer zu ertragen. Wir haben uns grosse Sorgen um ihn gemacht. Dann, mit dreieinhalb Monaten, hatte Nino eine offene Herzoperation. Das war auch eine schwere Zeit. Man steht das durch und merkt eigentlich erst im Nachhinein, was man da durchgemacht hat.
Johannes Cavelti: Aber es gibt auch Positives: Nino konnte nach zwei Wochen schon wieder nach Hause. Die Ärzte waren überrascht; sie sind sowieso tendenziell eher überrascht über seine Entwicklung, obwohl die verzögert ist.
Andrea Cavelti: Ja, Nino macht seinen Weg. Er ist ein fröhlicher Junge. Dabei wussten wir zuerst nicht einmal, ob er jemals wird lachen können.
Wirklich?
Andrea Cavelti: Als wir die Ärzte fragten, hiess es: «Nein, das können wir leider nicht sagen.» Tatsächlich gibt es auch Kinder, die nicht lachen können. Nino hat an dem Tag, als er nach der Herzoperation nach Hause kam, zum ersten Mal gelacht.
Das hat Ihnen sicher Mut gemacht!
Andrea Cavelti: Ja, ein Kind, das einen anlacht, das macht vieles einfacher. Wir können uns über kleine Dinge enorm freuen. Gestern zum Beispiel ist er zum ersten Mal eine Treppenstufe raufgeklettert. Da habe ich gleich meinen Mann und meine Tochter gerufen, dass sie sich das ansehen. Vor einem Jahr konnte Nino nicht einmal auf dem Bauch liegen.
Johannes Cavelti: Bei Nino ist die Entwicklung zwar zeitlich verzögert, aber dafür ist es intensiver. Wir freuen uns riesig, wenn er seine erste Treppenstufe schafft. Bei Nino kann man eben nicht sagen, wie weit es geht.
Andrea Cavelti: Ja, wir wissen noch nicht, ob er laufen lernen wird.
Johannes Cavelti: Ich sage dem die grosse Wundertüte. Alles, was er schafft, ist für uns ein Highlight. Aber ob es dann irgendwann mal stagniert oder nicht mehr weitergeht, das wissen wir nicht.
Sind Sie manchmal traurig darüber?
Andrea Cavelti: Ja, es gibt diese Momente. Diese Trauer, wenn man es plötzlich zum ersten Mal deutlich sieht, dass er weniger weit ist als andere Kinder in seinem Alter. Wenn man sich fragt, was wird sein, wenn er 15 ist? Dieser Gedanke kann belastend sein. Aber das ist ein Moment, und der Moment geht vorüber und ich erinnere mich wieder daran, im Jetzt zu sein.
Johannes Cavelti: Es ist selten, aber manchmal fällt man schon in dieses Loch, da fragt man sich: Wieso? Muss das wirklich sein? Aber ich denke, das ist normal.
Andrea Cavelti: Früher habe ich oft verglichen. Das ist menschlich, man macht das automatisch, ohne dass man sich dessen bewusst ist. Aber durch Nino habe ich gelernt, das nicht zu tun. Denn das Vergleichen kann unglücklich machen und es bringt rein gar nichts, erst recht bei Kindern, ob krank oder gesund. Es geht letztlich nicht darum, ob er laufen lernt, sondern ob es ihm gut geht. Diesen Prozess müssen wohl alle betroffenen Familien durchmachen.
Wie kommt Ihre Tochter Lin mit Ninos Behinderung zurecht?
Andrea Cavelti: Wir möchten natürlich, dass sie eine möglichst unbeschwerte Kindheit hat, obwohl Nino halt mehr Aufmerksamkeit braucht und bekommt.
Johannes Cavelti: Sie war ja dreieinhalb Jahre allein, und dann kommt da ein Geschwisterchen, das erst noch sehr viel Aufmerksamkeit bekommt und Unterstützung braucht. Das hat sie zu Beginn schon etwas mitgenommen. Es ist uns aber bewusst und ein grosses Anliegen, eine Balance zu finden, dass es sich nicht immer nur um Nino dreht.
Andrea Cavelti: Ich frage mich manchmal auch, wie es für sie sein wird, mit den Spielkameraden. Wird sie das Mädchen mit dem behinderten Bruder sein? Ich glaube, das hängt auch davon ab, wie entspannt wir als Familie mit der Situation umgehen.
Und wie reagiert Ihr Umfeld auf Nino?
Johannes Cavelti: Unterschiedlich. In meiner Familie zum Beispiel war man schon mit dem Thema vertraut; der Bruder meiner Mutter hatte auch eine Behinderung. Die Anteilnahme in der Familie und im engsten Freundeskreis war sehr gross, was uns unheimlich geholfen hat. Verständlicherweise gab es aber auch Erlebnisse in unserem Umfeld, wo wir eine Überforderung mit der Situation spürten. Und uns wurde in letzter Zeit auch klar, dass nicht allen bewusst ist, wie es um Nino steht oder mit welchen Herausforderungen wir als Familie konfrontiert sind.
Andrea Cavelti: Aber unsere engsten Freunde haben uns extrem unterstützt. Wir haben uns auch entschieden, Transparenz zu schaffen. Wir haben letztes Jahr eine Neujahrskarte gemacht und allen Freunden einen Brief mit Ninos Geschichte geschrieben und ihnen mitgeteilt, dass wir immer für Fragen offen sind.
Und in der Öffentlichkeit? Haben Sie schlechte Erfahrungen gemacht?
Andrea Cavelti: Eigentlich kaum. Es gibt zwar manchmal Leute, die unüberlegte Bemerkungen machen. Die mir zum Beispiel sagen, man könne ja wirklich froh sein, wenn man nicht so ein Kind habe. Da denke ich dann: «Bitte, sag das nicht!»
Johannes Cavelti: Die Leute haben oft Angst, sie wissen nicht recht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Dabei schätzen wir es, wenn Leute auf uns zukommen und Fragen stellen. Kinder machen das gut, sie kommen spontan und fragen einfach.
Was bringt Ihnen der Kontakt mit anderen betroffenen Familien?
Andrea Cavelti: Wir wussten gar nicht, wie viele Familien es gibt, die sich in einer ähnlichen Lage befinden. Man kriegt es gar nicht mit, man lebt in dieser anderen Welt, dieser normalen Welt. Und das ist auch richtig so. Aber sobald man so ein spezielles Kind hat, merkt man, was es für Schicksale gibt. Der Kontakt mit betroffenen Familien ist wertvoll, man hat viele Gemeinsamkeiten, auch wenn die Geschichten jeweils anders sind. Aber die Themen sind gleich, und auch die Schwierigkeiten – zum Beispiel mit den Ärzten oder der IV – sind oft ähnlich.
Johannes Cavelti: Viel bringt auch der Förderverein KMSK. Der bringt betroffene Familien zusammen.
Der Förderverein KMSK hat Ihnen geholfen?
Andrea Cavelti: Ja, der stellt unter anderem einen Grundstock von Informationen zur Verfügung, so dass man sich selber helfen kann. Erst auf seiner Website habe ich zum Beispiel gesehen, dass es einen Entlastungsdienst gibt.
Johannes Cavelti: Grundsätzlich, das muss ich hier einfach mal sagen, die Möglichkeiten, die man in der Schweiz hat, die sind einfach enorm. Das lernt man in einer solchen Situation kennen. Diese Institutionen, die Anlaufstellen, das ist extrem positiv. Da sind wir sehr dankbar.