Gut 80'000 Menschen sollen laut Schätzungen in der Schweiz an Spielsucht leiden, 160'000 Menschen an Internetsucht und 240'000 Menschen an Sexsucht: Die sogenannten Verhaltenssüchte (dazu zählen auch Arbeitssucht, Kaufsucht und das Messie-Syndrom) sind auch in der Schweiz verbreitet.
In Basel können Verhaltenssüchtige neu stationär behandelt werden – ein Novum in der Schweiz. In der am 1. Juli eröffneten neuen Abteilung der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel UPK stehen zwölf Behandlungsplätze zur Verfügung, von denen laut Professor Gerhard Wiesbeck, dem Leiter des Zentrums für Abhängigkeitserkrankungen der UPK, bereits die Hälfte besetzt ist. Die stationäre Behandlung soll jeweils rund sechs Wochen dauern.
Aufgenommen werden Patientinnen und Patienten aus der ganzen Schweiz. Die Kosten der Behandlung werden von der obligatorischen Grundversicherung der Krankenkassen übernommen. Für Wiesbeck ist klar: Während die klassischen Substanzabhängigkeiten abnehmen, sind Verhaltenssüchte auf dem Vormarsch.
Herr Wiesbeck, wann ist beim Pornokonsum oder bei Computerspielen von blossem Genuss und wann von einer Sucht zu sprechen?
Gerhard Wiesbeck: Nicht jedes exzessiv ausgeübte Verhalten ist eine Sucht, es gibt auch Leidenschaften oder schlechte Angewohnheiten. Wenn man den Suchtbegriff im populären Sinn verwendet, dann besteht die Gefahr einer «Inflationierung» und die Grenzen zwischen blossem exzessivem Verhalten und Abhängigkeiten verschwimmt. Man kann es auf die folgende Formel bringen: Wenn der Konsum überbordet, dabei die Kontrolle verloren geht und die Person sich und anderen körperlichen, psychischen oder finanziellen Schaden zufügt, dann sind Merkmale einer Sucht gegeben.
Es gibt schon ambulante Einrichtungen für Verhaltenssüchtige, wieso haben die UPK in Basel jetzt auch eine stationäre Abteilung eröffnet?
Wir haben seit 2010 an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel eine ambulante Abteilung für Verhaltenssüchte. Aktuell sind etwa 100 Patienten in Behandlung. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass ein Teil dieser Patienten mit einer ambulanten Behandlung nicht auskommt. Für diese Leute haben wir jetzt zwölf stationäre Behandlungsplätze, die Hälfte davon ist schon belegt.
Was für Patienten sind das?
Es handelt sich um Menschen, bei denen die Sucht so stark ausgeprägt ist, dass sie ambulant nicht mehr ausreichend behandelt werden können, oder sie haben Begleiterkrankungen, die eine intensivere Therapie erfordern. Ihre Einrichtung ist die erste schweizweit, die Verhaltenssüchte sind ein wissenschaftlich und medizinisch erst spärlich erforschtes Gebiet.
Wie definieren Sie Verhaltenssüchte, unter die zum Beispiel Internetsucht, Kaufsucht, Glücksspielsucht und Pornosucht fallen?
Es gibt für jede einzelne dieser Süchte verschiedene Kriterien, aber man kann eine übergeordnete Definition aufstellen: Verhaltenssüchte sind exzessive ausgeübte Verhaltensweisen, die der oder die Betreffende selber nicht mehr vollständig kontrollieren kann, und die mit negativen Konsequenzen einhergehen. Trotz der negativen Begleiterscheinungen wird das Verhalten nicht eingestellt.
Das tönt so, wie man eine Drogenabhängigkeit beschreiben würde ...
Ja, die Definitionskriterien der Substanzabhängigkeiten lassen sich mehr oder weniger auch auf die Verhaltenssüchte übertragen. Der grosse Unterschied ist: Bei den traditionellen Abhängigkeiten kommt noch die Eigenwirkung der Substanz hinzu. Bei den Verhaltenssüchten hingegen hat man es mit einer rein psychischen Abhängigkeit zu tun.
Die WHO hat vor kurzem Online-Spielsucht als Krankheit anerkannt – welche Bedeutung hat dieser Schritt?
Richtig, vor ein paar Wochen wurde in Genf die neueste Ausgabe der ICD, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten, der Öffentlichkeit vorgestellt. Gaming- und Gambling Disorders, zwei Verhaltenssüchte, sind darin erstmals aufgeführt. Wir als Universitätsklinik haben diese Entwicklung gewissermassen vorweggenommen.
Und wohin geht die Entwicklung?
Mit Zahlen gut belegbar: Die Heroinabhängigkeit, das grosse Problem der 80er- und 90er-Jahre, geht zurück, das gleiche Bild zeigt sich bei der Tabakabhängigkeit. Verhaltenssüchte auf der anderen Seite nehmen zu.
Wie viele Menschen sind in der Schweiz von Verhaltenssüchten betroffen?
Wir haben keine genauen Zahlen für die Schweiz, wir haben plausible Schätzungen. Diese beruhen auf Beobachtungen aus anderen Ländern. Nach konservativen Schätzungen kommt man für die Schweiz auf eine Zahl von einem Prozent, das an Spielsucht leidet, etwa zwei Prozent, die an Internetsucht leiden, und circa zwei Prozent an Sexsucht.
Und wie sieht es beim Verhältnis zwischen den Geschlechtern und bei den Altersgruppen aus?
In unserer Ambulanz behandeln wir in erster Linie Patienten mit einer Glücksspielproblematik, und das sind grossmehrheitlich Männer mittleren Alters, im Durchschnitt 45 Jahre alt. Bei der Internetabhängigkeit ist es das gleiche Bild, nur dass die Patienten im Schnitt 20 Jahre jünger sind. Bei den Patienten mit einem pathologischen Kaufverhalten handelt es sich grossmehrheitlich um Frauen, ebenfalls im mittleren Alter. Und bei dem exzessiven Sexualverhalten handelt es sich vorwiegend um Männer im Durchschnittsalter um die 40.
Unterliegen Verhaltenssüchte dem Zeitgeist? In den 90er-Jahren hat man noch von Fernsehsucht gesprochen, das ist nach dem Aufkommen des Internets kein Thema mehr ...
Das stimmt. Die Verhaltensweisen können sich ändern, was konstant bleibt, ist in etwa der Grad der «Süchtigkeit», den es in einer Gesellschaft gibt. Das wird sich vermutlich auch nicht ändern, denn eine suchtfreie Gesellschaft ist so illusionär wie eine Gesellschaft ohne Krankheit oder Unfälle. Wie sich diese Süchte aber äussern, das unterliegt dem Zeitgeist. Jede Zeit hat ihre Süchte. Die 20er hatten die erste grosse Kokainwelle, die 80er und 90er die Heroinepidemie, wir haben die Internetsucht und die Spielsucht.
Heute bezeichnen sich viele Leute im Umgang mit dem Smartphone als «abhängig». Wie ist das aus medizinischer Sicht einzuschätzen?
In der Mehrheit der Fälle handelt es sich dabei um keine Sucht, das heisst um kein Verhalten mit Krankheitscharakter im medizinischen Sinn, sondern lediglich um eine schlechte Angewohnheit. Allenfalls um ein problematisches Verhalten. Allerdings hat «Smartphone-Epidemie» das Problembewusstsein der Bevölkerung für exzessives Verhalten geschärft. Davon profitieren auch die Verhaltenssüchte.
Wie werden Verhaltenssüchte therapiert?
Unsere Devise lautet: Ambulant vor stationär. Aber es gibt einzelne Fälle, bei denen reichen ambulante Therapien nicht aus. Mit diesen Patienten führen wir zunächst ein Kennenlern- und Informationsgespräch. Der Patient soll wissen, wer und was ihn erwartet. Dann folgen diagnostische Abklärungen, die ermitteln, ob die Patienten allenfalls noch an anderen Erkrankungen oder anderen Abhängigkeiten leiden. Und schliesslich beginnt die Behandlung bestehend aus Einzeltherapie, Paartherapie, psychotherapeutischen geleiteten Gruppen und falls notwendig auch medikamentöser Behandlung. Begleitend bieten wir Physio- und Ergotherapie an sowie eine professionelle Sozialarbeit.
Wieso Sozialarbeit?
Weil viele unserer Patienten grosse soziale Probleme haben, zum Beispiel Schulden, Betreibungen, Wohnungs- und Arbeitsplatzprobleme.
Welche Art von Entzugserscheinungen zeigen sich bei Verhaltenssüchtigen?
Wir unterscheiden in der Psychiatrie zwischen psychischen und körperlichen Entzugserscheinungen. Bei den Verhaltenssüchtigen beobachten wir vor allem gravierende psychische Entzugserscheinungen. Zum Beispiel, wenn wir einem Glücksspielsüchtigen – mit seinem Einverständnis – den PC weggenommen haben: Dann zeigt sich ein starkes, ein imperatives Verlangen, das mit Nervosität, Gereiztheit und Unruhe einhergehen kann. Es gibt aber interessanterweise auch körperlich anmutende Entzugserscheinungen wie zum Beispiel Schlafstörungen, Schweissneigung und Herzklopfen.
Wann tauchte die Verhaltenssucht das erste Mal in der Medizingeschichte auf?
Das Phänomen hat es schon immer gegeben. Ich bringe immer das Beispiel des flämischen Arztes Pascasius Iustus Türck, der schon 1561 sagte: «Das Würfelspiel hat die gleiche Wirkung wie der Wein.» Das Phänomen ist also alt, aber es bettet sich ein in das jeweilige psychiatrische Krankheitsverständnis. Abhängigkeiten galten jahrhundertelang entweder als Sünde oder als moralisches Defizit oder als Charakterschwäche. Dass Süchte überhaupt als Krankheiten im medizinischen Sinne angesehen werden, ist erst seit ein paar Jahrzehnten der Fall.
Mit Material der sda.