Seit fast einem Jahr lebe ich schon in Barcelona. Nachts erwache ich oftmals, weil Leute auf der Strasse herumalbern oder herumbrüllen. Tagsüber geniesse ich jeweils das Hupkonzert, welches stattfindet, wenn die engen Gässchen blockiert sind und man nicht mehr durchfahren kann. Doch jetzt ist alles anders. Jetzt herrscht Stille.
Seit Montag befinden wir uns in Spanien im sogenannten «Alarmzustand». Alle Restaurants, Bars, Museen und Geschäfte – ausser Apotheken und Lebensmittelläden – mussten schliessen. Die Menschen dürfen ihre Häuser nur verlassen, wenn es unbedingt nötig ist. Wie es dazu kam:
Es ist Tag 1 und Barcelona ist schon merklich ruhiger geworden. Auf den sonst so lebhaften Strassen hat es kaum noch Leute. Die Geschäfte sind leer. Doch das ist alles erst der Anfang. Einen Tag zuvor wurde in der Zentralregierung in Madrid beschlossen, dass ab sofort alle Kindergärten, Schulen und Universitäten bis zum 26. März geschlossen werden. Die Verordnung betrifft mehr als anderthalb Millionen Menschen. Zudem rät die autonome Gemeinschaft den Arbeitnehmern, ihre Tätigkeiten von zu Hause aus zu verrichten.
Zu diesem Zeitpunkt stieg die Zahl der neu Infizierten in Madrid von 782 auf 1020. In Katalonien wurden 125 Infizierte und 3 Todesfälle registriert. In ganz Spanien liegt die Zahl der Infizierten mittlerweile bei knapp 2300 positiv getesteten Fällen.
Meine Bekannten richten sich heute bereits ihre Arbeitsplätze zu Hause ein. Auch mein Arbeitgeber teilt uns mit, dass wir bald von zu Hause arbeiten müssen. Sie seien auf eine solche Situation aber nicht vorbereitet und es habe zurzeit noch nicht genügend Laptops. Es werde so schnell wie möglich eine Lösung gesucht.
Meine Mitarbeiter nehmen das Ganze aber noch nicht besonders ernst. Sie senden sich gegenseitig lustige Memes hin und her und machen sich über die Situation lustig. Sie freuen sich noch immer darauf, bald im Kaffee oder am Strand arbeiten zu können.
Doch es gibt auch schon an diesem Mittwoch die anderen. Einige meiner Freunde machen sich ernsthafte Sorgen und buchen Flüge, um in dieser Zeit mit ihren Familien vereint zu sein.
Es ist Tag 2 nach den ersten Massnahmen im Kampf gegen den unsichtbaren Feind. Ich gehe wie jeden Donnerstagmorgen zum Sport. Doch im Fitnesscenter hat sich schon einiges verändert: Bevor man teilnehmen darf, wird jedem Teilnehmenden Fieber gemessen. Zudem desinfiziert eine Putzequipe die Geräte nach jeder Gruppenklasse.
Nachdem am Mittwoch in Madrid schon alle Schulen und Universitäten geschlossen wurden, entscheidet sich nun auch Katalonien dazu, alle Studenten nach Hause zu schicken. Die Anordnung gilt für öffentliche wie auch private Schulen – und somit auch für mich, da ich zweimal wöchentlich eine Sprachschule besuche.
Am Abend erhalte ich die Information, dass der Unterricht nicht mehr im Klassenzimmer stattfinde, sondern in den eigenen vier Wänden. Man werde den Kurs nicht unterbrechen, sondern via Skype weiterführen.
Zudem lese ich, dass knapp 70'000 Einwohner von fünf katalanischen Nachbargemeinden komplett unter Quarantäne gestellt worden sind. Diese Massnahme gelte zunächst für 14 Tage. Grund: In dem betroffenen Gebiet stieg die Zahl der Infektionsfälle in wenigen Stunden von 20 auf 58 Infizierte. Im ganzen Land werden bereits mehr als 3000 Infizierte und 84 Todesfälle registriert.
Auch die Fussball- und Basketballspieler von Real Madrid werden aufgrund eines positiv getesteten Basketball-Profis für 14 Tage in Quarantäne geschickt. Die spanische Profi-Liga «La Liga» unterbricht die Saison.
Freitagmorgen, circa 10.00 Uhr. Ich will mir kurz was zum Frühstücken kaufen. Statt ein Schoggibrötli erwartet mich dort aber was ganz anderes: eine lange Schlange von Menschen mit gefüllten Einkaufswägen. Die Leute stürzen sich auf Konservendosen, Pasta, Brot und Gemüse.
Am Mittag überlege ich mir kurz, in die Schweiz zurückzukehren. Das wäre jetzt der letzte Moment, bevor auch Spanien die Grenze dicht macht, denke ich mir. Doch als ich die Schweizer Pressekonferenz gucke, wird mir klar, dass das Gleiche auch bald in der Schweiz eintreten wird. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Ob ich in Barcelona oder in Zürich rumgammle, macht keinen Unterschied. Dazu kommt, dass keiner weiss, wie lange das alles dauern wird und ich zu einem späteren Zeitpunkt vermutlich nicht mehr nach Barcelona einreisen könnte. Ich entscheide mich, vorerst in Spanien zu bleiben.
Ich habe noch immer keine Möglichkeit, mich ins Homeoffice zurückzuziehen. Am Montag sollte ich wie gewohnt zur Arbeit erscheinen.
Nach der Arbeit versuche ich, in einem anderen Supermarkt einzukaufen. Aber auch dort sind mehr Leute als Lebensmittel anzutreffen. Um genügend Essen muss ich mir keine Sorge machen. Ich wohne mit einem Italiener zusammen, der seit dem Lockdown in Italien Pasta für mindestens 10 Jahre lagert.
Ich mache mich auf den Nachhauseweg. Es fühlt sich so an, als befände ich mich in einem kleinen Dörfchen mit wenigen Einwohnern. Die sonst so überlaufenen Strassen sind komplett ausgestorben. Restaurants und Bars haben ihre Türen bereits geschlossen. Barcelona, die meistbesuchte Stadt Spaniens, ist wie ausgestorben.
Für den nächsten Tag ist eine Pressekonferenz angesagt.
Am Samstagabend ist es dann so weit: Ministerpräsident Pedro Sánchez verordnet eine landesweite Ausgangssperre. Er ruft die Bevölkerung auf, zu Hause zu bleiben. Ab Montag um acht Uhr dürfe man nur noch auf die Strasse, wenn man einkaufen, zum Arzt, zur Arbeit oder zum Frisör (das ist kein Scherz. Haha) muss.
Um die Leute zu motivieren, zu Hause zu bleiben, entstehen kurz darauf die Hashtags: #QuédateEnCasa und #YoMeQuedoEnCasa (zu Deutsch: «Bleibt zu Hause» und «ich bleibe zu Hause»). Twitter-Abonnenten laden unzählige Fotos und Videos hoch, wie sie ihre tägliche Arbeit schon von zu Hause aus verrichten, Sitzungen via Skype abhalten oder Sport in den eigenen vier Wänden treiben.
Auch Barça-Spieler wie Leo Messi und Luis Suárez schliessen sich der Challenge an und rufen zur Verantwortung im Kampf gegen das Coronavirus auf.
Zudem gibt es den ersten Aufruf, um 20.00 Uhr auf dem Balkon oder Fenster für die Ärzte und das Krankenhauspersonal zu applaudieren und ihnen für ihren Einsatz zu danken. Das wird übrigens seither jeden Abend wiederholt.
Aplausos para todos los médicos y servicios hospitalarios. 🙏🏽 #AplausoSanitario pic.twitter.com/mGo9yJ9Am5
— Chantal (@schantallee) March 17, 2020
Später mache ich einen kurzen Spaziergang durch die Stadt. Sämtliche Bars, Restaurants und Diskotheken haben geschlossen. Auf den Strassen befindet sich keine Menschenseele.
Es überrascht mich wirklich, dass eine Stadt, in der immer etwas los ist und die wirklich niemals schläft, so schnell stillstehen kann. Die Leute haben den Ernst der Lage verstanden.
Sie haben verstanden, dass die Spitäler bereits am Überlaufen sind und es jetzt wirklich wichtig ist, das Ansteckungsrisiko zu minimieren. Ich bin ein bisschen stolz auf meine Zweitheimat. <3
Die Sonntagspresse schreibt, dass Spanien mit über 5700 Fällen nach Italien das am zweitstärksten vom Coronavirus betroffene Land in Europa ist. Zudem wird darüber berichtet, dass sich die Frau vom Regierungspräsidenten Pedro Sánchez mit dem neuartigen Virus infizierte. Spanien lanciert eine neue Kampagne mit dem Titel: #EsteVirusLoParamosUnidos. Was so viel bedeutet wie: Dieses Virus stoppen wir gemeinsam.
Dazu gehören auch Polizeikontrollen. Von einer Freundin erhalte ich am Morgen ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Polizisten einen Fahrradfahrer mit Lautsprechern vom Strand verjagen.
Polizeikontrolle am Strand von Barceloneta. pic.twitter.com/ap7eiaMyUY
— Chantal (@schantallee) March 18, 2020
Ich schliesse mich der Challenge #YoMeQuedoEnCasa an und verbringe den ganzen Tag zu Hause. Ich schreibe meinem Arbeitgeber, dass ich es etwas unverantwortlich fände, dass wir noch nicht von zu Hause aus arbeiten können. Wir seien so viele Leute aus verschiedenen Ländern. Ausserdem lebe ich in einer WG mit drei weiteren Personen und möchte diese nicht gefährden.
Meine Mitbewohnerin spaziert am Abend vor der Ausgangssperre noch ein letztes Mal an den Strand. Sie wird von der Polizei nicht aufgehalten, der Strand ist jedoch bereits abgeriegelt worden.
Ein Bekannter versucht, mit dem Auto in die Stadt zu fahren, er wird jedoch zurückgewiesen. Man dürfe nur noch aus beruflichen Gründen mit dem Auto in die Stadt.
In den sozialen Medien stosse ich auf ein Video, das im Quartier der Sagrada Família aufgenommen wurde. Ein Ort, der normalerweise überfüllt von Touristen ist.
Mein Reklamationsmail half nichts: Wir sollen alle gewöhnlich zur Arbeit erscheinen, würden dann aber neue Informationen erhalten.
Direkt vor meiner Haustür befinden sich vier Polizisten, die kontrollieren, wer sich auf der Strasse aufhält. Sie gucken kurz in meine Richtung, aber sie halten mich nicht an.
In der Pause schleiche ich kurz zum Supermarkt. Auch dort wurden drastische Massnahmen getroffen: Bevor man eintreten darf, muss man sich in eine Reihe stellen, die mit Klebeband abgetrennt ist, damit man beim Anstehen mindestens einen Meter Abstand voneinander hat.
Am Eingang steht ein «Türsteher», der kontrolliert, dass sich nur 20 Personen im Supermarkt aufhalten. Wenn man das Okay erhält, um reinzugehen, muss man sich die Hände desinfizieren. Falls man einen Einkaufswagen braucht, werden einem Handschuhe zur Verfügung gestellt. Die Regale sind nicht mehr leer geräumt. Das Einzige, was fehlte: Desinfektionsmittel.
Am Nachmittag verkündet Joaquim Torra, der Präsident der Regierung der autonomen Region von Katalonien, dass er positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Zudem teilt er mit, dass zurzeit bereits über 1000 Katalanen angesteckt wurden. Er bittet die Bevölkerung nochmals, zu Haue zu bleiben.
Zudem teilt Transportminister José Luis Ábalos in einem Interview mit, dass die Ausgangssperre länger als 14 Tage dauern soll. Zwei Wochen würden nicht ausreichen, um den Kampf gegen das Virus zu gewinnen.
Am Abend raucht mein Kopf. Die Meldung, dass Spanien quasi unter Quarantäne steht, erreicht auch meine Freunde aus der Schweiz. Sie wollen mir zu verstehen geben, dass die Schweiz die Lage besser unter Kontrolle habe und ich dort sicherer wäre.
Ich mache mich bereit für meine erste Spanischlektion via Skype und freue mich auf etwas Abstand von dem ganzen Thema.
Die Videokonferenz war dann etwas ganz Spezielles für uns. Wir konnten einen kleinen Moment das Virus ein klein wenig vergessen. Um 20.00 legen wir eine Pause ein, um auf den Balkon zu gehen, um für die Ärzte und das Pflegepersonal zu klatschen.
Auch mein Arbeitgeber meldet sich noch: Es gebe nicht genügend Laptops und das interne System dürfe man aufgrund des Datenschutzes nicht auf meinem Laptop installieren, heisst es. Aber: Alle Mitarbeiter dürfen den Bildschirm inklusive Computer bei sich zu Hause installieren.
Ich mache mich auf zu meinem Arbeitsplatz, um meine Sachen zu packen und danach endlich auch von zu Hause aus arbeiten zu können. Meine drei Mitbewohner befinden sich schon seit Freitag im Homeoffice.
Auch mein Fitness arbeitet bereits von zu Hause aus. Die Kurse finden zurzeit via Instagram-Livestream statt. Hanteln werden durch Toilettenpapier und Pet-Flaschen ausgetauscht.
Auf meinem Heimweg schiesse ich noch ein paar letzte Fotos von der ausgestorbenen Stadt, bevor auch ich mich ganz in Quarantäne begebe. Wie lange? Das weiss derzeit niemand.