Sodom und Gomorra, gewürzt mit ein bisschen Inzest
Heute allerdings fällt das Attribut «historisch» im eigentlichen Sinne weg, denn wir beschäftigen uns mit einer Bibelgeschichte ...
Der Himmel muss an jenem Tage besonders verhangen gewesen sein, sodass Gottes Sicht getrübt war und sein Blick die dichte Wolkendecke nicht zu durchbrechen vermochte. Was war da in den beiden Städten bloss los?
Vielleicht aber war es auch ein Fall von Verleugnung. Der eigentlich allwissende Herr wollte einfach nicht wahrhaben, dass seine Geschöpfe abermals der Sünde anheimgefallen waren. Dass «alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war». Er wollte nicht glauben, dass die Menschen in Sodom und Gomorra in ebenso liederlicher Gottlosigkeit versumpften wie einst ihre vorsintflutlichen Ahnen. Denn stimmten die Gerüchte, die ihm zu Ohren gekommen waren, so musste er auch sie vertilgen von der Erde.
In diesen Plan nun weihte Gott Abraham ein – schliesslich war er der Mann, den er zum Stammvater seiner Anhängerschaft auserkoren hatte und dem er versprach, er würde zahlreiche Völker aus ihm entstehen lassen, sodass dereinst selbst Könige von ihm abstammen würden. Als Abraham diese Worte vernahm, fiel er auf sein Gesicht nieder und lachte. Wie sollte er, ein fast hundert Jahre alter Greis, mit seiner neunzigjährigen Frau Sara ein Kind zeugen können?
Doch Gott würde ihm mit der Geburt Isaaks bald schon beweisen, dass er durchaus fähig war, Fruchtbarkeit zu schenken, wo sie längst versiegt geglaubt war.
Vorerst aber versuchte Abraham, Gott von seinem zerstörerischen Vorhaben abzubringen. Denn in Sodom wohnte sein Neffe Lot, und den wollte er vor dem göttlichen Zorn gerettet wissen. Und so wagte er zu reden mit dem Herrn, wiewohl er Erde und Asche war:
«Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein; wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig Gerechter willen, die darin wären? Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, sodass der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?»
Gen 18, 23–25
Und sieh an, die Worte Abrahams machten Eindruck auf den Herrn, der sich sogleich am Seelenfeilschen seines Günstlings beteiligte und sich gütlich herunterhandeln liess. Fände er allein zehn gute Männer in Sodom, so wollte er um ihretwillen die ganze Stadt verschonen. Versprach's und schickte zwei Engel in Männergestalt aus, die sich nun aufmachten in jenen mutmasslichen Sündenpfuhl.
Als diese unter dem Tor der Stadt erschienen, erblickte Lot, der Neffe Abrahams, die beiden und bat sie, die Nacht in seinem Hause zu verbringen. Doch die zwei Männer wünschten, im Freien zu nächtigen. Nur konnte Lot das nicht zulassen, eingedenk der in der Stadt herrschenden Ruchlosigkeit musste er dafür sorgen, dass den beiden Gästen nichts zustiess. Für ihn war Gastfreundschaft nichts Geringeres als eine höchste, heilige Pflicht, die er unter allen Umständen zu erfüllen trachtete. Und so nötigte Lot die beiden Männer so sehr, bis sie schliesslich bei ihm einkehrten.
Die Nacht legte sich über Sodom und bald schon schlichen Schatten um Lots Haus. Düstere Gestalten, aus allen Ecken der Stadt waren sie herbeigeströmt, Knaben ebenso wie Greise umstellten bald das ganze Haus, sie schrien und tobten, hämmerten an die Tür und Fenster: «Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind diese Nacht? Gib sie heraus, dass wir ihnen beiwohnen!», so riefen sie.
Und als das Wüten anschwoll und die Fenster ob all der rohen Gewalt zu zerbersten drohten, schlüpfte Lot schnell aus der Tür und schloss diese sogleich wieder, dass nur keiner an ihm vorbei ins Innere des Hauses dringen konnte.
Und er sprach:
«Ach, liebe Brüder, tut nicht so übel! Siehe, ich habe zwei Töchter, die wissen noch von keinem Manne; die will ich euch herausgeben, und dann tut mit ihnen, was euch gefällt; aber diesen Männern tut nichts, denn darum sind sie unter den Schatten meines Dachs gekommen.»
Gen 19, 7–8
Aber die Männer draussen wollten sich nicht mit den beiden dargebotenen Jungfrauen vergnügen, allein nach den Männern gelüstete es ihnen.
Und schon wollten sie sich an Lot selbst vergehen, jenem Verräter, der selbst kein Sodomit war und sich nun mit den Fremden gemein machte, der sich aufspielte und glaubte, den Leuten hier Befehle erteilen zu können.
Noch bevor sie seiner habhaft werden konnten, griffen die zwei Engelsmänner aus der Tür hinaus und zogen Lot herein zu sich in Sicherheit. Die Rasenden draussen aber schlugen sie mit Blindheit. Und wo ihre gierigen Finger sich fortan antasteten, da fanden sie bloss Wände, aber keinen Eingang mehr.
Nun enthüllten die Engel dem Lot ihre wahre Identität. Dass sie gesandt worden waren vom Herrn, um diese sich als sündig erwiesene Städte zu verderben. Er möge nur schnell seine Leute warnen, damit sie Sodom noch rechtzeitig entfliehen konnten.
«Macht euch auf und geht fort von diesem Ort!», sprach er nun zu den Männern, die seine Töchter zu ehelichen versprochen und die sich mit all den anderen vor seinem Hause zusammengerottet hatten. «Gott wird diese Stadt vernichten!» Doch diese lachten bloss über Lots Worte und hielten sie für einen Scherz.
So kam es, dass im Morgengrauen die Engel allein den zögernden Lot, seine Frau und seine beiden Töchter an den Händen vor die Tore führten. Sein Leben sollte er retten und nicht hinter sich sehen, wies ihn der eine Engel an, auch dürfte er nicht stehen bleiben in dieser ganzen Gegend, ins Gebirge sollte er sich aufmachen mit seiner Familie.
Lots Frau aber drehte sich um zur brennenden Stadt und ward zur Salzsäule.
Lot und seine Töchter aber flüchteten ins Gebirge und fanden Zuflucht in einer Höhle, wo sie fortan lebten. Doch so ein Leben stand den jungen Frauen nicht an, kein Mann weit und breit, den sie heiraten und dem sie Kinder gebären konnten! Nicht nur um ihr Hab und Gut, sondern um ihren ganzen Daseinszweck waren sie gebracht worden! Und in ihrer Verzweiflung sprach die ältere zur jüngeren:
«So komm, lass uns unserm Vater Wein zu trinken geben und bei ihm schlafen, dass wir uns Nachkommen schaffen von unserm Vater.»
Gen 19, 32
Gesagt, getan. Die beiden Frauen legten sich in zwei aufeinanderfolgenden Nächten zum betrunkenen Lot, der sich dem töchterlichen Treiben «nicht gewahr ward», weder bei der einen noch bei der anderen, weder als sie zu ihm kamen, noch als sie ihn wieder verliessen. Die Zeugung aber gelang ihm trotz komatösem Zustand vortrefflich.
Denn die ältere Tochter gebar ihrem Vater neun Monate später Moab, von dem die Moabiter abstammen, die jüngere brachte Ben-Ammi zur Welt, den Stammvater der Ammoniter, beides Völker jenseits des Jordans.
Erdbeben, Meteorit oder Ätiologie
Im Falle der Geschichte um Sodom und Gomorra wird mehrheitlich angenommen, dass die beiden Städte überhaupt nicht existierten oder zumindest archäologisch nicht nachweisbar sind. Es gibt allerdings Ausnahmen; der Geologe Graham Harris stellte die These auf, dass vor ca. 5000 Jahren eine grössere Stadt am Ufer des Toten Meeres durch ein Erdbeben und einen nachfolgenden Erdrutsch zerstört worden sein könnte. Eine andere umstrittene Hypothese geht von einem Meteoriten-Einschlag aus.
Die Erzählung der beiden sündigen Städte ist aber wohl nicht mehr als eine Ätiologie, also eine Ursprungserzählung, die erklären soll, warum etwas so ist, wie es gegenwärtig ist: Sodom und Gomorra nun werden in der Bibel in der Jordansenke verortet, irgendwo in der Gegend des Toten Meers. Die Unfruchtbarkeit dort, die unwirtliche Trockenheit und das dort herrschende Wüstenklima haben wohl Anlass zur Geschichte gegeben; Gott muss jene Landschaft bestraft haben, auf dass da nichts mehr wachse – so die kulturhistorische Erklärung.
Der Umgang mit Katastrophen und der Blick zurück
Flut, Krieg, Erdbeben – das alles sind Katastrophen, mit denen auch schon der vorantike Mensch konfrontiert war. Wie aber soll mit so unermesslichem Leid, mit Verlust umgegangen werden?
Die radikale Antwort, die unsere Geschichte liefert: Schau nicht zurück! Wer zurückschaut, wird zur Salzsäule wie Lots Frau. Ein Sinnbild für's Nicht-Loslassen-Können, für jemanden, der vor lauter Vergangenheit keine Zukunft mehr hat, der in der ewigen Rückschau erstarrt und sich damit die Chance auf einen Neuanfang verbaut.
Eine ähnliche Geschichte findet sich auch in der griechischen Mythologie, die tragische Sage von Orpheus und Eurydike, erzählt in Vergils «Georgica» und Ovids «Metamorphosen»: Eurydike, die Frau des Sängers Orpheus, stirbt auf der Flucht vor einem Vergewaltiger an einem Schlangenbiss. Todtraurig über diesen Verlust steigt Orpheus in die Unterwelt hinab, um seine Frau zurückzuholen. Mit seinem Gesang und dem Spiel seiner Lyra rührt er das Herz des Fährmanns Charons so sehr, dass dieser ihn über den Styx fährt. Und selbst den dreiköpfigen, schlangenhaarigen Höllenhund Kerberos, der das Tor zur Unterwelt bewacht, vermag er mit seiner Musik zu besänftigen. Persephone und Hades erlauben ihm daraufhin, seine Ehefrau wieder mit in die Oberwelt zu nehmen unter der Bedingung, dass er sich den ganzen Weg hinauf nicht nach ihr umdrehe. Doch als Orpheus ihre Schritte nicht mehr hört, tut er es trotzdem – und Eurydike entgleitet ihm für immer.
Hier wird der Verlust eines geliebten Menschen thematisiert, der als gebannter Blick nach hinten Leben verunmöglicht.
Warum lässt Gott das zu? – Theodizee
Warum geschehen Katastrophen? Und warum lässt ein allmächtiger und gerechter Gott die Guten ebenso wie die Bösen darin sterben?
Auch diese theologische Frage wird verhandelt, Gott lässt sich in der Geschichte gar auf eine Debatte ein, er verhandelt mit Abraham und verspricht schliesslich, die Stadt zu verschonen um der Gerechten willen, die darin wohnen. Nur leider finden sich ausser Lot und seiner Familie keine weiteren. Niemand eilt Lot und seinen in Bedrängnis geratenen Gästen zur Hilfe, niemand hält den Mob auf – die Zerstörung der Stadt ist also nach dieser Logik folgerichtig.
Vernichtung durch Sexualität
Dass der Mob von Sodom unbedingt die Männer vergewaltigen will, die sich in Lots Haus aufhalten, hat zweierlei Komponenten:
Erstens sind Männer, die mit Männern verkehren, im Alten Testament ganz und gar nicht erwünscht. Homosexualität wird als Sodomie angesehen und gehört bestraft.
Vielmehr geht es aber darum, dass die Männer Fremdlinge sind; während Lot – selbst nicht ortsansässig – die Gastfreundschaft hochhält, will die Meute vor seinem Haus die Fremden durch sexuelle Gewalt vernichten; das ist Fremdenhass in seiner rohsten Form.
Ein unmoralisches Angebot, Inzest und die Abwertung gewisser Völker
An Lot gibt es zwei Aspekte, die aus heutiger Sicht unverzeihlich und in einem misogynen Sinne verbogen sind:
Erstens bietet kein anständiger Mann – und als solcher wird er offensichtlich gesehen, sonst würde Gott ihn nicht retten – seine Töchter einer gewalttätigen Meute an.
Und zweitens wird hier die Vergewaltigung zweier Frauen durch ihren Vater in altbekannter Weise so umgedreht, dass sie als Verführerinnen auftreten, während der Mann überhaupt nichts mitbekommen haben will, es im Vollrausch aber dennoch geschafft hat, zwei Kinder zu zeugen.
Diese zwei Nachkommen sind auch der eigentliche Grund für die Inzest-Geschichte: Aus ihnen gehen nämlich die beiden Völker der Moabiter und Ammoniter hervor. Während das Volk Israel aus Abraham entstehen wird – seine 90-jährige Frau Sara wird dank Gottes Fruchtbarkeitswunder Isaak gebären –, sind also jene Jordanier aus einer sehr unrühmlichen sexuellen Verbindung zwischen Vater und Töchter hervorgegangen. Die Erzählung dient der Abqualifizierung jener Stämme, die zwar mit Israel verwandt, aber eben doch nicht auf gleicher Stufe stehen.
Die Hintergrundinformationen stammen mehrheitlich aus dem Bibel-Podcast «Unter Pfarrerstöchtern» von Sabine Rückert, der stellvertretenden Chefredaktorin der «ZEIT» und ihrer Schwester, der evangelischen Theologin Johanna Haberer.
